Archive in Niedersachsen und der Nationalsozialismus – Kontinuitäten und Brüche

Archive in Niedersachsen und der Nationalsozialismus – Kontinuitäten und Brüche

Organisatoren
Niedersächsisches Landesarchiv; Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen; Verband niedersächsischer Archivarinnen und Archivare
Veranstaltungsort
Niedersächsisches Landesarchiv
Ort
Hannover
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
05.10.2023 - 07.10.2023
Von
Sandra Funck, Niedersächsisches Landesarchiv – Abteilung Hannover; Jasper Henning Hagedorn, Niedersächsisches Landesarchiv – Abteilung Hannover; Torben Möbius, Niedersächsisches Landesarchiv – Abteilung Hannover

Archivar:innen beeinflussen durch ihre Arbeit maßgeblich das Wissen über Geschichte.1 Sie entscheiden, welche Unterlagen von staatlichen, kommunalen, kirchlichen und privatwirtschaftlichen Verwaltungen überliefert werden und bewegen sich damit im Spannungsfeld zwischen politischer Herrschaft, Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur. Insofern stellt sich mit Blick auf die deutsche Geschichte im Zeitalter der Extreme die Frage, wie sich die Berufsgruppe in den Jahren vor, während und nach der nationalsozialistischen Herrschaft verhalten hat. Die Zunft hat mit dem Deutschen Archivtag im Jahr 2005 begonnen, die eigene Verstrickung in den Nationalsozialismus aufzuarbeiten.2 Auch für die Archive im heutigen Bundesland Niedersachsen liegen erste Forschungen vor.3 Viele Fragen sind jedoch bisher offengeblieben. Angesichts dieser Leerstellen war das Ziel der Tagung, die Geschichte der Archive im heutigen Niedersachsen vor, während und nach der nationalsozialistischen Herrschaft kritisch aufzuarbeiten. Die Tagung fand im Niedersächsischen Landesarchiv in Hannover statt. Kooperationspartner waren die Historische Kommission für Niedersachsen und Bremen und der Verband niedersächsischer Archivarinnen und Archivare (VNA). Neben staatlichen Archiven waren auch kommunale und kirchliche Archive vertreten.

In seinem Einführungsvortrag zeigte ARND REITEMEIER (Göttingen) auf, dass das heutige Niedersachsen ein nationalsozialistisches Kerngebiet bildete, weil die Umbrüche in der Landgesellschaft und die Paradoxien der modernen Gesellschaft hier in besonderer Weise zu Tage traten. „Niedersachsen“ sei dabei nicht nur ein konstruierter Raum miteinander konkurrierender regionaler Identitäten, sondern ein Mythos, aus dem schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg das heutige Bundesland entstehen konnte. Archivare erzeugten dabei zusammen mit Historikern diese Niedersachsen-Ideologie.

Der erste Themenschwerpunkt der Tagung lag auf den institutionellen Entwicklungen des Archivwesens auf dem Gebiet des heutigen Niedersachsens. Den Auftakt gab NICOLAS RÜGGE (Hannover) mit einer Übersicht über die Strukturen staatlicher, kommunaler und kirchlicher Archive von 1920 bis 1970. Er hob drei Elemente hervor, die Archive verschiedener Sparten und Länder verbanden. Erstens seien dies die Historischen Vereine und Kommissionen gewesen, die bereits einen „niedersächsischen“ Raum definiert hatten und innerhalb von diesem agierten. Zweitens hätten Verbindungen über Deposita und drittens über die von den Staatsarchivdirektoren geleitete „Archivpflege“ bestanden.

Die nachfolgenden Vorträge stellten einzelne Archive als Fallbeispiele vor. JÖRN BRINKHUS (Bremen) erläuterte die Instrumentalisierung des Bremer Staatsarchivs für die nationalsozialistische Rassenpolitik. Das Archiv habe in der NS-Zeit reibungslos funktioniert, zur Erstellung von „Ariernachweisen“ recherchiert und Parteidienststellen unaufgefordert über „nichtarische“ Betroffene informiert. Zudem habe es politische Einflussnahme auf die Lokalforschung und die Öffentlichkeit ausgeübt, indem es Artikel des Bremischen Jahrbuchs redigierte. Der Archivleiter Friedrich Prüser habe zudem aus politischer Überzeugung zahlreiche propagandistische Artikel verfasst. Insbesondere die archivische Öffentlichkeitsarbeit in der NS-Zeit sei bisher kaum erforscht.

Dass Archive im von Umbrüchen bewegten Untersuchungszeitraum auch regionale Identitäten stützten, zeigte STEFAN BRÜDERMANN (Bückeburg). So sei es kein Zufall gewesen, dass Rudolf Grieser kurz vor dem schaumburgisch-lippischen Unabhängigkeitsreferendum 1957 die Gründung eines niedersächsischen Staatsarchivs in Bückeburg anstrebte. KARLJOSEF KRETER (Hannover) hob die Relevanz einzelner Personen für die NS-Geschichte der Archive, insbesondere in den meist sehr kleinen Stadtarchiven, hervor. Der Leiter des Stadtarchivs Hannover habe zielgerichtet – sowie auf Kosten der archivischen Kernaufgaben – die Verquickung des Archivs mit der NS-Sippenkunde betrieben.

Die Landeskirchlichen Archive in Hannover und Braunschweig sahen sich mit ähnlichen Problemen konfrontiert wie die Stadtarchive. BIRGIT HOFFMANN (Wolfenbüttel) verdeutlichte am Beispiel der landeskirchlichen Archive Hannover und Braunschweig, dass die Landeskirchen die Abgabe ihres Schriftguts, insbesondere ihrer Kirchenbücher an die Staatsarchive kritisch sahen. Gleichzeitig seien viele Pfarrer erleichtert gewesen, die Arbeitsbelastung der Recherche für Ariernachweise abtreten zu können. Wie das Beispiel des Kirchenbuchamts Hannover zeige, hätten die Landeskirchen dennoch der NS-Rassenpolitik durch die Bereitstellung kirchlicher Quellen Schützenhilfe geleistet.

Das Gauarchiv Südhannover-Braunschweig diente als Beispiel der gescheiterten Bemühungen des Hauptarchivs der NSDAP in München, eine einheitliche Organisation des Parteiarchivwesens durchzusetzen. Laut JOHANNES SCHWARTZ (Hannover) sei das Fehlen einer ausreichenden Finanzierung durch das Hauptarchiv ausschlaggebend gewesen. Das Gauarchiv war ehrenamtlich geführt und durch die Stadt Hannover und den Gau finanziert. In der parteigeschichtlichen Archivierung habe daher jeder Gau eigene Wege beschritten.

In seinem Abendvortrag vertiefte THOMAS VOGTHERR das geschichtspolitische Wirken führender niedersächsischer Archivare, indem er die Bedeutung von Georg Schnaths Geschichtsbild für die Identität des Bundeslandes Niedersachsen erläuterte. Schnath wirkte seit den 1930er Jahren zentral an der diskursiven Konstruktion Niedersachsens mit. Als langjähriger Direktor des Staatsarchivs in Hannover und Leiter der Historischen Kommission war er eine prägende Figur des staatlichen Archivwesens in Niedersachsen nach 1945. Der überzeugte Nationalsozialist war Leiter des Archivwesens der deutschen Militärverwaltung im besetzten Frankreich und so in die nationalsozialistische Besatzungspolitik verstrickt.

Die nach 1945 erfolgte Zäsur bedeutete zwar einen Neuanfang des niedersächsischen Archivwesens, gleichzeitig bestanden aber viele Kontinuitäten. So betonte CHRISTINE VAN DEN HEUVEL (Ronnenberg), Rudolf Grieser habe als Leiter der niedersächsischen Archivverwaltung die Anstellung vieler Kollegen des preußischen Archivdienstes aus den Ostgebieten vorangetrieben und die Verwaltung nach preußischem Vorbild organisiert. Die Loslösung der Staatsarchive der Provinz Hannover von der preußischen Archivverwaltung habe er jedoch bereits in den unmittelbaren Nachkriegswochen erwirkt. Er setzte sich in den folgenden Jahrzehnten nachdrücklich gegen die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ein. Dies werfe die Frage auf, inwieweit Grieser die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Bundesrepublik jemals akzeptierte.

MARTIN SCHÜRRER (Osnabrück) legte dar, wie die Politisierung des Zonalen Archivlagers Goslar in der Nachkriegszeit den Verbleib des dortigen Archivguts aus den deutschen Ostgebieten beeinflusste. Während die britische Militärregierung ungeachtet deutscher Proteste zunächst eine Rückführung des Archivguts vorsah, habe es sich im aufkommenden Kalten Krieg in eine Verhandlungsmasse verwandelt, deren Auslieferung als Niederlage empfunden worden wäre. Als Standort habe sich Göttingen aufgrund der dort intensiv betriebenen Ostforschung durchsetzen können. Es sei so eine „Fortsetzung der preußischen Ostforschung im niedersächsischen Gewand“ betrieben worden.

Einen weiteren Schwerpunkt bildete die Frage, inwiefern sich das NS-Regime auf die archivische Praxis auswirkte. Diese Auswirkungen bestanden in einer Erweiterung der Handlungsspielräume auf der einen Seite und einer zusätzlichen Belastung von Archivaren in ihrem Arbeitsalltag auf der anderen Seite. Hier stand neben den archivischen Fachaufgaben – Überlieferungsbildung, Erschließung, Bestandssicherung und Bereitstellung – die Archivpflege im Fokus der Betrachtung.

CHRISTIAN HOFFMANN (Hannover) kam in seiner Gesamtschau der niedersächsischen Staatsarchive zu dem Fazit, dass, auch wenn sich in der niedersächsischen Archivlandschaft keine NS-spezifische Bewertungspraxis herausgebildet habe, aufgrund der politischen Rahmenbedingungen dennoch einigen Aktengruppen größere Aufmerksamkeit zuteil geworden sei. Dazu zählten die Unterlagen der freiwilligen Gerichtsbarkeit, aber auch die Übernahme von Kirchenbüchern und Zivilstandsregistern sei nun verstärkt verfolgt worden. Das Staatsarchiv Hannover, das den Akten der freiwilligen Gerichtsbarkeit bislang nur geringes Interesse entgegengebracht habe, übernahm nun große Mengen dieses Schriftguts, das für die Erstellung von sogenannten Ariernachweisen eine wichtige Informationsgrundlage darstellte. An der Erschließungspraxis hätten sich, so Hoffmann, ebenfalls keine NS-spezifischen Veränderungen ausmachen lassen.

Die Bereitstellung von Ariernachweisen – wenngleich es sich hier nicht um ein niedersächsisches Spezifikum handelte – hatte indes großen Einfluss auf den Alltag der Archivare. MAIKE BUCK (Braunschweig) demonstrierte am Beispiel des Staatsarchivs Wolfenbüttel, dass die Erstellung von Ariernachweisen die schriftlichen Anfragen und die Nutzung bis 1936 klar dominierte. Jedoch blieb die Chance, aufgrund dieser Hoheit über zentrale Quellen mehr Bedeutung im NS-Staat zu gewinnen, ungenutzt. Dem Archivleiter Hermann Voges, der vielfach seine eigene Überlastung und die zwangsweise Vernachlässigung der archivischen Fachaufgaben schilderte, gelang es nicht, mehr Personal oder eine dringend notwendige Erweiterung der räumlichen Kapazitäten zu erwirken. Ob Voges, der sich unter anderem wegen falscher Angaben einem Disziplinarverfahren konfrontiert sah, dies tatsächlich aus einer Widerstandsmotivation heraus tat, ließe sich retrospektiv nicht mehr feststellen.

Nicht zuletzt trugen Archivare aktiv zur nationalsozialistischen Verfolgung von Jüdinnen und Juden im Dritten Reich bei, indem sie sich die Unterlagen jüdischer Gemeinden einverleibten. THOMAS BRAKMANN (Osnabrück) referierte am Beispiel der jüdischen Gemeinden im Regierungsbezirk Osnabrück, wie Archivare im Austausch mit SA und Gestapo die Registerüberlieferung der dortigen jüdischen Gemeinden ausfindig machten und ihre Beschlagnahmung mit vorantrieben. Infolge der „Gleichschaltung“ kam es teilweise zu einer Verschiebung von Zuständigkeiten und Machtverhältnissen in der niedersächsischen Archivlandschaft. Dies demonstrierte MICHAEL HERMANN (Aurich) am Beispiel der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden und dem Staatsarchiv Aurich, die seit ihrer Gründung im 19. Jahrhundert um die Überlieferungsbildung und Kompetenzen in Fragen der ostfriesischen Landesgeschichte miteinander im Wettbewerb standen.

Verquickungen mit dem NS-Staat zeigten sich indes auch während der Kriegszeit. KERSTIN RAHN (Oldenburg) verwies darauf, dass der Bau von geeigneten Regalen und Transportkisten für die Evakuierung des Archivguts in Oldenburg mithilfe von Zwangsarbeiter:innen bewerkstelligt wurde. Die Evakuierung von Archivgut lag in den Händen der leitenden Archivare und erfolgte zu verschiedenen Zeitpunkten und mit unterschiedlichem Erfolg.

In einem einführenden Vortrag zeichnete PHILIPP HAAS (Wolfenbüttel) die Geschichte der Archivpflege nach. Darunter ist nach Bodo Uhl die „Fürsorge der staatlichen Archive für alle Archive“ und deren Schriftgut zu verstehen, die „nicht ihrer Verfügungsgewalt unterworfen sind“. Haas skizzierte die Entwicklung der Archivpflege in langen Linien: Um 1900 habe sie sich eng verbunden mit Diskursen der Heimatpflege und der Privatisierung von Adelsarchiven entwickelt. Bereits in den 1920er-Jahren wurden Archivpflegestellen eingerichtet. In die Zeit des Nationalsozialismus fällt eine wesentliche Zäsur der Entwicklung der Archivpflege: Im Jahr 1937 scheiterte die Verabschiedung eines Archivgutschutzgesetzes, von dem sich archivische Akteure eine rechtliche Verankerung und Standardisierung der Archivpflege erhofft hätten. Schließlich entwickelte sich die Archivpflege in Niedersachsen von einer kommunalen zu einer staatlichen, ehrenamtlich ausgeführten Aufgabe, die auch noch bis in die 1980er-Jahre geschichtsaffine Personen, Kulturpfleger, Heimatforscher und Volksschullehrer:innen wahrnahmen. THOMAS BARDELLE (Stade) unterstrich für den Regierungsbezirk Stade, dass den Archivpfleger:innen in den 1930er- und 1940er-Jahren entscheidende Bedeutung bei der Sicherung von Archivgut zugekommen sei, da dort kein hauptamtliches staatliches Archiv vorhanden war. Ein in vielen Aspekten ähnliches Bild zeigte sich im Kreis Verden, wie FLORIAN DIRKS (Verden) in seinem Vortrag herausarbeitete. Hier seien mit Unterstützung des Heimatpflegevereins Kreisarchivpfleger:innen tätig gewesen, bevor ein Kreisarchiv entstand. Die Archivpflege hat heute in der Niedersächsischen Archivverwaltung in Form einer Schriftgutberatung keine Ersatzform gefunden. Durch die Vorträge wurde ersichtlich, wie sehr sich in der Zeit des Nationalsozialismus die Archivpflege in ihrer Ausrichtung und Praxis veränderte. An nächster Stelle könnten Untersuchungen jenseits der beispielhaften Ebene stehen, inwiefern die Archivpflege dem NS-Staat zum Nutzen gereicht haben könnte.

Die folgenden Beiträge standen im Zeichen personeller Netzwerke. SABINE GRAF (Hannover) arbeitete heraus, wie die Entnazifizierung und der berufliche Wiedereinstieg niedersächsischer Archivare gelang. Dabei prägten Entlastungsnarrative das Selbstbild dieser stark vernetzten Berufsgruppe: Man habe als „Wissenschaftler“ dem Nationalsozialismus distanziert gegenübergestanden und sich so auf ein entpolitisiertes Berufsethos zurückgezogen. Diese Narrative standen im klaren Widerspruch zum tatsächlichen Handeln vieler wissenschaftlicher Archivare in der NS-Zeit. Anschließend analysierte GUDRUN FIEDLER (Braunschweig) mit Erich Weise einen Akteur der Ostforschung, der in leitender Position im Warschauer Archivamt in die Besatzungspolitik verstrickt war und nach 1945 durch Griesers Einfluss als erster Leiter des neu gegründeten Niedersächsischen Staatsarchivs weiter beschäftigt werden konnte. Dabei habe der national-konservative und völkisch eingestellte Weise nach 1945 sein ideologisches Wirken partiell angepasst, von der Überlegenheit des deutschen hin zum westeuropäischen „Kulturraum“. In der anschließenden Diskussion wurde nochmals die bei den wissenschaftlichen Archivaren häufig auftretenden großen ideologischen Schnittmengen mit der nationalsozialistischen Ideologie unterstrichen – was durchaus üblich war für bürgerliche Funktionseliten.

Die letzte Sektion widmete sich Akteuren und Handlungsspielräumen. BRAGE BEI DER WIEDEN (Wolfenbüttel) fragte danach, wie sich das neue, „betriebsgemeinschaftliche“ Arbeitsrecht auf den Arbeitsalltag im Braunschweigischen Landeshauptarchiv auswirkte. Das Personal rekrutierte sich dabei aus vielen „alten Kämpfern“. Politische Einstellungen, Persönlichkeitsstrukturen und konkurrierende Karriereerwartungen verbanden sich innerhalb der spezifischen Handlungsspielräume im polykratischen NS-Herrschaftssystem zu konflikthaften Arbeitsbeziehungen. Hinzu kam, dass der Arbeitsalltag durch die hohen Nutzeranfragen im Zuge der Ariernachweise überlastet war.

HENNING STEINFÜHRER (Braunschweig) informierte anhand des Braunschweiger Stadtarchivars Werner Spieß über ein seltenes Beispiel eines zwar national-konservativ gesinnten Archivars, der aber seine ethischen Standards nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht über Bord warf und auch öffentlich immer wieder auf Distanz zum NS-Regime ging. Abschließend zeigte JULIA KAHLEYSS (Bremerhaven) am Beispiel des Stadtarchivs Wesermünde (Bremerhaven) Karrierechancen und -brüche während der NS-Zeit auf.

In seinem Kommentar bündelte DIETMAR VON REEKEN (Oldenburg) abschließend das im Laufe der Tagung herausgearbeitete Verhalten der Archivare während und nach der Zeit des Nationalsozialismus. Die Verstrickungen der niedersächsischen Archivverwaltung seien vielfältig; ideologische Schnittmengen und opportunes Verhalten dominierten, nonkonformes Verhalten oder gar Widerstand waren selten, in erster Linie passten sich Archivare den Gegebenheiten an. Außerdem eröffnete von Reeken Perspektiven für eine weitergehende Historisierung des niedersächsischen Archivwesens im Nationalsozialismus. Diese müsse in zweifacher Weise über das Archiv hinaus gehend geschehen. Einerseits müsste im Anschluss an diese hier geleistete Bestandsaufnahme eine genauere gesellschaftliche Kontextualisierung des Wirkens der Archive im Zusammenspiel mit anderen lokalen und (über-)regionalen Akteuren und Institutionen erfolgen. Andererseits müsse die geschichtswissenschaftliche Forschung und damit der Blick von außen stärker in die Analyse einbezogen werden, während diese Tagung in erster Linie von Archivar:innen geprägt gewesen sei. Außerdem plädierte von Reeken dafür, genauer den Kontinuitäten im Denken und Handeln nach 1945 nachzuspüren. Die Abschlussdiskussion stellte heraus, dass weitgehend offengeblieben sei, wie sich das Handeln der Archivare im Nationalsozialismus konkret auf die Überlieferungsbildung ausgewirkt habe. Weitere Stimmen forderten, Fragen und Perspektiven der aktuellen NS-Forschung stärker einzubeziehen, etwa inwiefern die Archive von Zwangsarbeit profitiert hätten und wie die NS-Volksgemeinschaft im Arbeitsalltag eingeübt wurde. Der Sammelband, der im Anschluss an die Tagung entstehen soll, bietet die Chance, diesen Leerstellen nachzugehen. Es ist zu hoffen, dass die wichtigen Impulse dieser Tagung zu einer weiteren (selbst-)kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte der niedersächsischen Archive in der NS-Zeit führen werden.

Konferenzübersicht:

Donnerstag, 5. Oktober 2023

Begrüßungen

Sabine Graf, Präsidentin des Niedersächsischen Landesarchivs

Staatssekretär Jörg Mielke, Chef der Niedersächsischen Staatskanzlei

Henning Steinführer, Vorsitzender der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen

Julia Kahleyß, Vorsitzende des Verbandes niedersächsischer Archivarinnen und Archivare

Einführungsvortrag
Detlef Schmiechen-Ackermann (Hannover): Moderation

Arnd Reitemeier (Göttingen): Niedersachsen und der Nationalsozialismus

Sektion 1: Institutionelle Entwicklungen I
Manfred Grieger (Göttingen): Moderation

Nicolas Rügge (Hannover): Archivische Strukturen in ‚Niedersachsen‘ zwischen 1920 und 1970

Jörn Brinkhus (Bremen): Das Staatsarchiv Bremen in der NS- und der Nachkriegszeit

Stefan Brüdermann (Bückeburg): Vom „Fürstlichen Haus- und Staatsarchiv“ zum „Niedersächsischen Staatsarchiv“ in Bückeburg. Archiventwicklung im Kleinststaat

Sektion 2: Institutionelle Entwicklungen II
Michael Schütz (Hildesheim): Moderation

Karljosef Kreter (Hannover): Ein Stadtarchiv in der NS-Zeit. Das Beispiel Hannover

Birgit Hoffmann (Wolfenbüttel): Gründung und Entwicklung der beiden landeskirchlichen Archive in Hannover und Braunschweig

Johannes Schwartz (Hannover): Nationalsozialistische Parteiarchive: das NSDAP-Gauarchiv Südhannover-Braunschweig im historischen Kontext

Abendvortrag
Jörg Voigt (Hannover): Moderation

Thomas Vogtherr (Osnabrück): Georg Schnaths Geschichtsbild im Dienste der Identität des Bundeslandes Niedersachsen

Freitag, 6. Oktober 2023

Sektion 3: Institutionelle Entwicklungen III
Jörg Voigt (Hannover): Moderation

Christine van den Heuvel (Ronnenberg): „Ein neues Archivwesen aus dem Nichts“? –Rudolf Grieser und die niedersächsische Archivverwaltung nach 1945

Martin Schürrer (Osnabrück): Ein Politikum im Kalten Krieg. Das Zonale Archivlager Goslar (1945–1952) und die Rolle der Niedersächsischen Staatsarchivare

Sektion 4: Archivische Praxis I
Cornelia Regin (Hannover): Moderation

Christian Hoffmann (Hannover): Bestandsbildung, Erschließung, Benutzung – Alltag in den staatlichen Archiven Niedersachsens in den sogenannten „Friedensjahren“ des „Dritten Reiches“ (1933–1939)

Meike Buck (Braunschweig): „Nimmt […] das gesamte Archivpersonal völlig und restlos in Anspruch“. Das Staatsarchiv Wolfenbüttel und die nationalsozialistische Rassepolitik

Kerstin Rahn (Oldenburg): „… mit einigen starken Hindernissen …“. Kriegsbedingte Evakuierungen von Archivgut – Maßnahmen und Folgen

Sektion 5: Archivische Praxis II
Holger Berwinkel (Göttingen): Moderation

Michael Hermann (Aurich): „… dass dem Staatsarchiv massgebender Einfluss auf die landesgeschichtliche Forschung zusteht …“ – Handlungsspielräume im Wettbewerb zwischen der „Kunst“ und dem Staatsarchiv Aurich in den ersten Jahren des Nationalsozialismus

Maik Schmerbauch (Emmerke/Berlin): Katholisches Archivwesen im Dienst der „Sippenforschung“ 1933-1945 – das Kirchenbucharchiv am Hildesheimer Domhof (entfallen)

Thomas Brakmann (Osnabrück): Die Archivalien der jüdischen Gemeinden des
Regierungsbezirks Osnabrück im Staatsarchiv. Ermittlung, Beschlagnahmung, Nutzung und Rückgabe zwischen 1937 und 1951

Sektion 6: Archivische Praxis III
Stephanie Haberer (Hannover): Moderation

Philip Haas (Wolfenbüttel): Ein schillernder Begriff, stetem Wandel unterworfen. Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Archivpflege in Preußen, Braunschweig und Niedersachsen – und zugleich ein Definitionsversuch

Thomas Bardelle (Stade): Die Archivpflege in der Provinz Hannover von 1937 bis 1947, dargestellt am Beispiel des Regierungsbezirks Stade

Florian Dirks (Verden): Archivpflege im Kreis Verden 1945/47–1962 und der Umgang mit Kontinuitäten und Brüchen

Samstag, 7. Oktober 2023

Sektion 7: Personelle Netzwerke
Detlef Schmiechen-Ackermann (Hannover): Moderation

Sabine Graf (Hannover): Entnazifizierung und beruflicher Wiedereinstieg. Personelle Netzwerke niedersächsischer Archivare nach der Zäsur von 1945

Gudrun Fiedler (Braunschweig): Alte Netzwerke neu aufgelegt. Der erste Leiter des Niedersächsischen Staatsarchivs Stade Erich Weise (1895–1972) in Diktatur und Demokratie

Sektion 8: Akteure und Handlungsspielräume
Cornelia Rauh: Moderation

Brage Bei der Wieden (Wolfenbüttel): Gemeinschaft und Gefolgschaft? Konfigurationen im Braunschweigischen Landeshauptarchiv 1938

Henning Steinführer (Braunschweig): Zwischen Anpassung und Widerstand. Der Braunschweiger Stadtarchivar Werner Spieß und sein Wirken während der Zeit des Nationalsozialismus

Julia Kahleyß (Bremerhaven): Aufstieg und Fall durch Parteimitgliedschaft? Karrierechancen und -brüche während der NS-Zeit am Beispiel des Stadtarchivs Wesermünde (Bremerhaven)

Kommentar

Prof. Dr. Dietmar von Reeken (Oldenburg)

Abschlussdiskussion

Anmerkungen:
1 Zwar wurden Frauen vereinzelt für den Archivdienst in den 1930er-und 1940er-Jahren ausgebildet, traten danach aber nicht in den Archivdienst ein, sondern waren stattdessen in der Archivpflege aktiv. Wenn von Archivaren im historischen Sinne gesprochen wird, wird daher die männliche Form verwendet.
2 Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus. 75. Deutscher Archivtag 2005 in Stuttgart, Redaktion: Robert Kretzschmar u. a. (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Archivtag, 10), Essen 2007.
3 Vgl. etwa Torsten Musial: Staatsarchive im Dritten Reich. Zur Geschichte des staatlichen Archivwesens 1933–1945, Potsdam 1996; Christian Hoffmann, Das Staatsarchiv Hannover und seine Archivare im „Dritten Reich“, in: Christine van den Heuvel u.a. [Hrsg.]: Perspektiven der Landesgeschichte Göttingen 2020, S. 667–693; Martin Schürrer: Beschlagnahmt – umkämpft – umstritten: das Schicksal der jüdischen Archivalien Oldenburgs im Kontext (west-)deutscher Archivgeschichte, in: Oldenburger Jahrbuch 120 (2020), S. 149–174; Thomas Vogtherr: Beobachtungen zur Biographie von Georg Schnath (1898–1989), in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 81 (2009), S. 405–424.